Dienstag, 7. Juni 2016

Bevorstehende Handelskrise oder Kehrtwende in der Brexit-Diskussion?

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Am 5. Mai 2016 wählte London einen neuen Bürgermeister: den europafreundlichen Muslim Sadiq Khan. Ein pragmatischer Akt der Toleranz, geprägt von der Bereitschaft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – nämlich auf die Fähigkeiten eines Menschen und die Fundamente des Wohlstands, wie den internationalen Handel. Wird diese Wahl am Ende auch Einfluss auf das Referendum um den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union (EU) haben?
Die Londoner hatten guten Grund, für Europa zu stimmen, denn London ist auf Handel gebaut. Der internationale Austausch hat zu einem Großteil zum Wohlstand der Städte, Regionen und Nationen beigetragen. Obwohl der globale Handel seit der globalen Finanzkrise eher verhalten und nicht so stark wie zuvor wächst, kann die Wiedereinführung von Handelsbarrieren für Großbritannien weitreichende Folgen haben. Schließlich gingen im Jahr 2014 51,7 Prozent der Exporte Großbritanniens in die EU, während die Importe aus der EU 55,8 Prozent ausmachten. Großbritannien hat eine eigene Währung und genießt ein hohes Maß an wirtschaftspolitischer Souveränität, die durch einen Austritt aus der EU kaum erhöht würde. Auch ist zweifelhaft, dass der Brexit zu einer Lösung der Flüchtlingssituation für Großbritannien führen würde. Sicher sind jedoch andere Entwicklungen: Handelsbarrieren erhöhen die Preise für Importe für Konsumenten und die produzierende Wirtschaft, die auf Importe angewiesen ist. Tritt Großbritannien aus der EU aus, würden daher als Folge nicht nur Exporte, sondern auch die im Land für den nationalen Markt produzierten Güter teurer. Was würde ein Brexit noch mit sich bringen? Die Antwort erfordert das Formulieren verschiedener Hypothesen. Vier konzeptionelle Optionen sollen der Analyse dienen: 1) totale Unabhängigkeit, 2) eine lockere Assoziation mit der EU, 3) weitgehende Harmonisierung mit der EU, und schließlich 4) der Anschluss Großbritanniens an ein anderes Bündnis, wie beispielsweise das North American Free Trade Agreement (NAFTA). Die Wahl würde Art und Ausmaß der Folgen bestimmen. Dies in Bezug auf die EU selbst und auf die vielen Ländern und Regionen, mit denen die EU Handelsabkommen abgeschlossen hat.
Im Falle der Assoziation und Harmonisierung sind geringe Auswirkungen zu erwarten. Die Folgen eines Beitritts zu einem anderen Bündnis sind speziell zu analysieren. Die Dauer der Verhandlungen wird hierbei einer wichtige Rolle spielen. In allen anderen Fällen ist höchstwahrscheinlich eine Anpassung der Beschaffungs-, Fertigungs- und Distributionsnetzwerke erforderlich. Je nach Unternehmen und Industrie wäre dies sofort oder erst nach einiger Zeit notwendig, für einige würde die Änderung partiziell, für andere radikal ausfallen.
Der Wohlstand eines Landes hängt in der heutigen globalen und vernetzten Welt erheblich von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ab. Diese determiniert sich zu einem erheblichen Teil in den folgenden vier Bereichen: 1) Grenzabfertigung, 2) Marktzugang, 3) Telekommunikations- und Transportinfrastruktur, und 4) das Geschäftsumfeld. Im Falles des Brexits wäre nur die Infrastruktur nicht negativ betroffen. Der Einfluss auf die anderen drei Bereiche wird nachstehend kurz angerissen.
Grenzkontrollen verlängern die Transportzeit und verlangsamen insbesondere die Beschaffungs- und Distributionsprozesse. Bei internationaler Fragmentierung der Produktion werden auch die Fertigungsnetze beeinträchtigt. Da die Wartezeiten an der Grenze schwer kalkulierbar sind, wäre beispielsweise der Einsatz von Just-in-time Konzepten, wie wir sie aus der Automobilbranche kennen, nur schwer aufrecht zu erhalten. Erhebliche Kostensteigerungen wären die Folge, da bisher nicht notwendige Bestände am Produktionsort wieder erforderlich würden. Aber nicht nur die Automobilindustrie wäre betroffen. Da Wartezeiten generell Geld kosten, schlüge sich der Brexit auf alle grenzüberschreitenden Prozesse in allen Bereiche des Lebens und Wirtschaftens die auf dies angewiesen sind negativ nieder. Staatliche Investitionen in hocheffiziente digitale Verzollungsprozesse könnten u.U. einen Teil der Nachteile ausgleichen. Dies braucht allerdings auch Zeit und Geld. Das Ideal der sofortigen Abfertigung von “intelligenten Waren” – dank Internet der Dinge –an den Grenzen ist aufgrund der erheblichen Investitionen und internationalen Abstimmung auf kurze Sicht wahrscheinlich eher auszuschließen.
Auch der Bereich des Marktzugangs wäre wahrscheinlich im Falle eines EU-Austrittes betroffen. Erhöhte staatliche Regulierung ist oft mit protektionistischen Maßnahmen einzelner Industrien verbunden. Die Folge ist ein verringerter Innovationsdruck auf die lokale Wirtschaft, was gewöhnlich auf Dauer zu einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit der geschützten Industrien führt.
Das Geschäftsumfeld würde ebenfalls negativ beeinträchtigt. Beispielsweise in der Investitionspolitik und bei der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, die wahrscheinlich erschwert würde. Um größere Beeinträchtigungen der eigenen Wirtschaft zu vermeiden, wäre die Regierung Großbritanniens gezwungen, mit vielen Ländern Handelsabkommen auszuhandeln, um das Defizit der Vereinbarungen zu elimieren. Dazu zählten auch die Beitrittsverhandlungen zu einem neuen Bündnis.
Nicht nur für Großbritannien, auch für viele Handelspartner würden die Geschäfte im Falles eines EU-Austritts erschwert und daher negativ beeinträchtigt. Hoffen wir daher, dass das Referendum scheitert und Großbritannien in der EU bleibt. Der Austritt würde ein negatives Zeichen setzen bevor sich die Folgen offenbarten. Vielleicht gibt die Wahl von Sediq Khan Zuversicht in Bezug auf die Wertschätzung der Globalisierung und den Bestand internationaler Bündnisse.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im BVL Blog.

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